Text: Jessica Krauß
Der Klang der Bäume
Die Komponistin Susie Ibarra übersetzt Klänge der Natur in Musik – und schafft so ein neues Bewusstsein für die Wahrnehmung der Umwelt.
Früh am Morgen, noch bevor die Dämmerung über Berlin richtig einsetzt, erklingt unter dem Fenster von Susie Ibarra ein Konzert der besonderen Art. Die Amsel gibt mit einer kurzen melodischen Tonfolge und Schlusstriller den Takt vor, begleitet vom Rascheln der Kastanienblätter an den Ästen vor Ibarras Fenster. Für die Künstlerin ist es mehr als nur eine akustische Begrüßung. Es ist ein Dialog mit der Natur und ein Eintauchen in eine musikalische Welt voller Rhythmen und Klänge.
Seit einem Jahr lebt die philippinisch-US-amerikanische Komponistin, Perkussionistin und Klangkünstlerin mit ihrer Familie in Berlin. Sie wurde vom Berliner Künstlerprogramm des DAAD als Fellow für Musik und Klangkunst eingeladen. Ihre Zeit in Berlin sei „ein Geschenk“ gewesen, sagt sie. Sowohl für ihre Familie als auch besonders für ihre künstlerische Arbeit. Während ihres Residenzaufenthalts arbeitete Ibarra mit anderen Fellows des Künstlerprogramms an der Performance „CHAN: Sonnets and Devotions in the Wilderness“, rief ein Bildungsprojekt mit deutschen und ukrainischen Schülerinnen und Schülern ins Leben und arbeitete an „Sky Islands“, einer Komposition über das Ökosystem und Biodiversität, die 2025 mit dem Pulitzer Preis für Musik ausgezeichnet wurde. Was ursprünglich als künstlerischer Austausch begann, wurde zu einer tiefen Verbindung zur Stadt, den Menschen und zum Klang der Berliner Natur.
Vom Wald in die Komposition
Ibarras Kompositionen sind klingende Kartografien von Flüssen, Wäldern, Bergen. „Jeder Ort hat seine eigene Sprache“, sagt sie. „Und ich höre zu.“ Sie nimmt die Geräusche der Natur auf, wertet Frequenzen aus und übersetzt das, was sie hört, in Rhythmuszyklen. Sie verwandelt den Puls der Natur in Musik.
So ist auch ihr jüngstes Werk „CHAN: Sonnets and Devotions in the Wilderness“ entstanden, das im Rahmen der MaerzMusik 2025 der Berliner Festspiele uraufgeführt worden ist. Sechs Sätze, sechs Landschaften, entworfen als philippinische Kundimans, Lieder der Sehnsucht und der Liebe. Jeder Satz ist ein Klangporträt eines Ortes, der für Ibarra eine Bedeutung hat: ein heiliger Gletschersee im Himalaya-Gebirge, der Pasig-Fluss auf den Philippinen oder ein alter Buchenwald in Deutschland. Eine Besetzung aus Ensemble, Barockorgel und lyrischen Stimmen führen durch die Komposition, Ibarra selbst spielt an den Percussions. Die Texte des Oratoriums haben die südkoreanische Lyrikerin Don Mee Choi und der nigerianische Lyriker Logan February, ebenfalls Fellows des Berliner Künstlerprogramms, entwickelt.
Besonders eindrucksvoll ist der Lautsprecherbaum auf Ibarras Bühne. Eine filigrane, speziell entworfene Installation, die nicht nur wie ein Baum aussieht, sondern auch wie einer klingt. Aus seinen Ästen hallen eigens komponierte Gongklänge und aufgezeichnete Vogelstimmen aus den baltischen Wäldern. „Ich wollte einen zusätzlichen Musiker auf der Bühne“, erzählt Ibarra lachend. „Und was wäre passender als ein Baum?“
Feldforschung in der Natur
Der Wald ist für Susie Ibarra nicht nur ein Ort, sondern ein Mitspieler. „Kein Baum klingt wie der andere, selbst wenn es dieselbe Art ist“, sagt sie und erklärt, wie sehr Standort und Umgebung das Klangbild eines Baumes prägen. In ihren Feldaufnahmen fängt sie die feinen Frequenzen und Rhythmen ein, die in Ästen, Stämmen und Wurzeln entstehen, und zeigt damit, dass auch Bäume ihre ganz eigene Sprache haben. „Man muss nur zuhören.“
In Berlin hat Susie Ibarra daher nicht nur komponiert, sondern auch ein Bildungsprojekt für Kinder aus Tegel und Kreuzberg initiiert, das Hören als kulturelle Kompetenz vermittelt. Auf dem ehemaligen Flughafengelände in Tegel gingen die Kinder gemeinsam mit ihr mit Aufzeichnungsgeräten und Mikrofonen auf akustische Entdeckungstour: Sie hörten dem Gras beim Wachsen zu, den Schafen beim Grasen, den Bäumen beim Atmen.
„Kinder haben eine natürliche Beziehung zur Natur und ihren Klängen“, sagt Ibarra. „Wir müssen ihnen nur zeigen, wie sie richtig zuhören.“ Besonders bewegend seien die Erlebnisse mit geflüchteten ukrainischen Kindern gewesen, ihre Erinnerungen an die Natur der Heimat, ihre neuen Erfahrungen in Berliner Wäldern, und die Geschichten, die sie dabei erzählten.
Musik als Brücke zwischen Kunst und Wissenschaft
Angefangen mit ihrer besonderen Feldforschung hat Susie Ibarra bei einer Reise auf die Philippinen. Sie begann, Musik und Tänze von indigenen Gemeinschaften aufzunehmen, sowohl im Norden der Insel Luzon, von der ihre Familie stammt, als auch auf den Visayas-Inseln, auf Mindanao und Palawan. Indigene Künstlerinnen und Künstler baten sie schließlich um Unterstützung im Kampf gegen Umweltzerstörungen wie Abholzung und industrielle Fischzucht. Ibarra begann, Feldaufnahmen zu machen und Klangporträts der bedrohten Landschaften zu erschaffen. Ihre Werke sollen aufzeigen, wie tief Natur und Mensch miteinander verwoben sind – und wie notwendig ein respektvoller Umgang mit der Umwelt ist.
Dass Ibarra Klang nicht nur als ästhetisches, sondern auch als ökologisches Phänomen begreift, zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Werk. In ihren früheren Projekten arbeitete sie mit Glaziologinnen und Glaziologen in den kanadischen Rocky Mountains, kartierte Klanglandschaften von Gletschern und Flussdeltas. Dabei entstand ein interdisziplinärer Austausch, in dem musikalische Neugier und wissenschaftliche Methodik einander inspirierten. Aktuell arbeitet sie an der Materialität von Klang. „Wie sich Schall durch Metall, Wasser oder Glas bewegt, ist nicht nur Physik, sondern auch Poesie“, sagt Ibarra.
„I am too a chestnut tree“
Wenn Susie Ibarra auf die ersten Knospen am Kastanienbaum vor ihrem Fenster blickt, erkennt sie darin ein Sinnbild für ihren eigenen Weg in Berlin: das Wachsen ihrer künstlerischen Ideen im Austausch mit der Natur, das Entstehen neuer Klänge, das Verwurzeln in der neuen Heimat.
„I am too a chestnut tree“, schreibt die Dichterin Don Mee Choi in der gemeinsamen Performance „CHAN“ – eine Zeile, die für Susie Ibarra zu einem Sinnbild geworden ist. Und eine Einladung, genau hinzuhören und die Welt neu wahrzunehmen. —
Susie Ibarra war 2024 bis 2025 Fellow für Musik und Klangkunst des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Während ihres Residenzaufenthalts in Berlin entstanden das Werk „CHAN: Sonnets and Devotions in the Wilderness“ sowie die Arbeit „Sky Islands“, für die Ibarra mit dem Pulitzer-Preis für Musik ausgezeichnet wurde. Auch nach Ende des Fellowships lebt und arbeitet die Komponistin, Perkussionistin und Klangkünstlerin aus New York weiterhin in Berlin.
Erfahren Sie im Videoporträt mehr über die Klangkunst von Susie Ibarra.
Mit Musik ein Bewusstsein für die Natur schaffen: Der Komponist Ludger Kisters entwickelt Kompositionen aus Naturklängen und elektroakustischer Musik – und übersetzt diese in visuelle Kunst. Lesen Sie hier ein Porträt über den DAAD-Alumnus und seine besondere Arbeit.