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Ästhetik, Moderne und ein Anklang an alte Zeiten

Die japanische Schrift verbindet Elemente des Chinesischen und japanische Innovation. Warum das zugleich für Identität und Veränderung steht, erklärt Axel Karpenstein, Leiter der DAAD-Außenstelle Tokyo.

Ausgabe 1 | 2023

Mein Chemielehrer in der Mittelstufe hatte einen Lieblingsscherz: Immer, wenn jemand mit leerem Blick auf die Tafel starrte, fragte er: „Welchen Buchstaben kennst du denn nicht?“ Was bei einem Alphabet mit 26 Zeichen lustig klingt, ist für Japaner Alltag. Im täglichen Gebrauch werden rund 3.000 Schriftzeichen verwendet und auch Muttersprachlerinnen und Muttersprachler treffen immer wieder auf Zeichen, die sie nicht kennen oder zwischenzeitlich vergessen haben.

Es wird angenommen, dass die Vorläufer des Japanischen im ersten Jahrtausend vor unserer Zeit über die koreanische Halbinsel nach Japan gelangten. Vor rund 1.500 Jahren kam dann zusammen mit der chinesischen Literatur, Religion und dem Rechtssystem die chinesische Schrift nach Japan. Das Schriftsystem passte ­allerdings nicht zur grundverschiedenen Grammatik des Japanischen. So ging man allmählich dazu über, die Laute der japanischen Sprache mit einer begrenzten Anzahl von verkürzten oder schnell geschriebenen chinesischen Schriftzeichen wiederzugeben – die japanischen Silbenschriften waren geboren.

Im Lauf der Jahrhunderte entwickelte sich hieraus das heutige Mischsystem des Japanischen, in dem die chinesischen Schriftzeichen als Bedeutungsträger mit der Silbenschrift Hiragana für grammatikalische Endungen kombiniert werden. Eine zweite Silbenschrift, Katakana, wird hauptsächlich zur Wiedergabe der meist aus dem Englischen entlehnten Fremdwörter verwendet. Und da deren Anzahl beständig steigt, ändert sich auch das Schriftbild allmählich – es wird zunehmend „unchinesisch“.

Ein Schriftsystem, in dem Symbole verwendet werden, kann Vorteile haben. Studien stellen zum Beispiel eine höhere Lesegeschwindigkeit fest. Der Lernaufwand ist aber enorm. Sich mehrere Tausend Schriftzeichen anzueignen, ist ein recht monotoner Prozess, der sich über die gesamte Schulzeit hinwegzieht. Die Notwendigkeit, für ein Leben in Japan die Schrift erlernen zu müssen, ist außerdem eine große Hürde für Arbeitskräfte aus dem Ausland – ein Problem für Japan, das sich aktuell mit den Konsequenzen einer schrumpfenden Bevölkerung befassen muss.

Es ist in gewisser Weise erstaunlich, dass ein so komplexes Schriftsystem in der hektischen Moderne fortbesteht. Korea erfand im 15. Jahrhundert ein eigenes, vielfach als „logischstes Schriftsystem der Welt“ bezeichnetes Alphabet, das die chinesischen Schriftzeichen abgelöst hat. Auch in Vietnam setzte sich ein Schriftsystem durch, das lateinische Buchstaben statt chinesischer Schriftzeichen verwendet. In Japan trug interessanterweise gerade die fortschreitende Computertechnologie zum Erhalt der Schrift bei. Auf einer Tastatur oder dem Smartphone müssen nur die Laute der Wörter und Sätze eingegeben werden, die dann in die korrekten Schriftzeichen konvertiert werden. Letztlich sind das Schriftsystem und dessen bestechende Ästhetik auch kulturelles Erbe und Identitätsmerkmal Japans – die Schrift reflektiert sowohl die chinesischen Einflüsse der Frühzeit als auch die kreative und unabhängige Weiterentwicklung in Japan. —

Axel Karpenstein ist Leiter der DAAD-Außenstelle Tokyo.