Zum Nachdenken

Mehrsprachigkeit als Normalfall

Warum sprachliche Vielfalt in einer Gesellschaft selbstverständlich sein sollte: ein Gastbeitrag von Professorin Heike Wiese von der Berliner Humboldt-Universität.

Ausgabe 1 | 2023

Infolge von Globalisierung, verstärkter internationaler Vernetzung und Migration erfahren heute auch Gesellschaften, die sich lange Zeit als sprachlich eher homogen verstanden haben, eine mehrsprachige Dynamik. Während meine Generation Englisch zum Beispiel vor allem als Fremdsprache aus der Schule kannte, gucken heute viele Jugendliche in Deutschland amerikanische Serien im Original, folgen englischsprachigen Influencer:innen auf YouTube und verfassen englische Beiträge auf TikTok. In ihren Messenger-Nachrichten mischen sie Deutsch nicht nur mit Englisch, sondern auch mit Sprachen, die sie als Herkunftssprachen ihrer Eltern oder Großeltern oder durch Freund:innen kennen.

In mehrsprachigen städtischen Wohngebieten ist durch diese sprachliche Vielfalt zum Beispiel Kiezdeutsch entstanden, ein urbaner Dialekt des Deutschen, der im Bereich des Wortschatzes durch Neuzugänge wie türkisch „lan“ („Typ“), arabisch „habibi“ („Schatz“), russisch „brat“ („Bruder“) oder englisch „nice“ („schön“) bereichert wird und auf grammatischer Ebene laufende Entwicklungen des Deutschen ausbaut und weitertreibt. Und auch auf urbanen Märkten finden wir eine bunte Sprachmischung. Auf dem Maybachufer-Markt in Berlin beobachteten wir beispielsweise, wie Händler:innen kontinuierlich ihr sprachliches Repertoire erweitern und diese Ressourcen in der Interaktion mit Käufer:innen nutzen, ohne sich dabei von Sprachgrenzen einschränken zu lassen. In diesem Kontext können sich mehrsprachige grammatische Muster entwickeln, eine „Marktgrammatik“, die für bestimmte Wendungen ein grammatisches Gerüst zur Verfügung stellt, in das dann je nach Bedarf Wörter beliebiger Sprachen eingefügt werden können.

Diese sprachliche Vielfalt wird oft als etwas ganz Neues und Herausforderndes für unsere Gesellschaft verstanden. Mehrsprachigkeit ist jedoch nichts Ungewöhnliches, sondern vielmehr der Normalfall. Menschliche Gemeinschaften waren schon immer durch Sprachvariation und Kontakt geprägt. Das zeigt sich besonders (aber nicht nur) in Städten, denn Städte waren schon immer ein Kristallisationspunkt für soziale und sprachliche Vielfalt.

Mittelalterliche Städte in Deutschland brachten nicht nur unterschiedliche regionale Dialekte zusammen, sondern auch eine bunte Sprachenvielfalt von Hoch- und Plattdeutsch über Latein als Sprache der Bildung und der Religion in christlichen Gemeinschaften, Hebräisch und Aramäisch als Schriftsprachen und Jiddisch als Umgangssprache in jüdischen Gemeinschaften, über Sprachen wie Romanes, Sorbisch oder Dänisch, die noch heute als Minderheitensprachen in Deutschland gesprochen werden, bis zu den vielen weiteren Sprachen, die durch ausländische Geschäftsbeziehungen von Kaufleuten, durch Studenten und Zuwanderung aus anderen Ländern hinzukamen. Entsprechend war auch Sprachmischung schon immer Teil des Sprachgebrauchs. Unter Gebildeten im 16. Jahrhundert gehörte beispielsweise die Kombination von Deutsch und Latein, wie sie etwa in den Tischreden Martin Luthers deutlich wird, zum guten Ton. Die Briefe, die Liselotte von der Pfalz im 17. und 18. Jahrhundert schrieb, wurden nicht zuletzt wegen ihrer virtuosen Mischung aus Französisch und Deutsch berühmt, und der preußische Staatsmann und Reformer Freiherr vom Stein integrierte diese beiden Sprachen zum Beispiel in Briefen an seine Frau.

Mehrsprachigkeit und mehrsprachige Prak­tiken sind also nichts Neues, sondern waren auch früher schon normal. Ungewöhnlich ist eher Einsprachigkeit. Studien aus Psycholinguistik und Neurowissenschaften haben eine Reihe kognitiver Vorteile von Mehrsprachigkeit auf­gedeckt, in Bezug auf Reflexionsfähigkeit, Aufmerksamkeitssteuerung, kognitive Flexibilität, Arbeitsgedächtnis, Kreativität und das spätere Einsetzen geistigen Abbaus im Alter. So ge­sehen ist also eher Einsprachigkeit das Problem: eine sprachliche Verarmung, die kognitive Nachteile mit sich bringen kann.

„Mehrsprachigkeit ist nichts Neues, sondern war auch früher schon normal. Ungewöhnlich ist eher Einsprachigkeit.“

Wie kommt es dann aber, dass Einsprachigkeit oft als der Maßstab für Sprachpraxis, Sprachkompetenzen und „Muttersprachlichkeit“ angesehen wird, und Mehrsprachigkeit als Sonderfall und potenzielles Problem? Dies ist ein Erbe der europäischen Nationalstaatenbildung. Im 18. und 19. Jahrhundert war die Idee der Nation als Trägerin eines Staates zentral, und zur Konstruktion dieser Nation diente oft eine vermeintliche Einsprachigkeit, die ideologische Verbindung „eine Nation – eine Sprache“. Diese Einsprachigkeit entsprach damals ebenso wenig der Realität wie heute, das Konstrukt führte aber dazu, dass wir immer noch etwas beobachten, das die Bildungswissenschaftlerin Ingrid Gogolin einen „monolingualen Habitus“ nannte: eine Haltung, die impliziert, wir lebten in einer einsprachigen Gesellschaft.

Dieser Habitus ist entsprechend vor allem im Globalen Norden verbreitet, nämlich in Europa und den Staaten, die aus ehemaligen europäischen Siedlungskolonien entstanden sind (wie zum Beispiel die USA oder Australien). Die Idee, Einsprachigkeit sei normal, ist also nicht nur historisch, sondern auch geografisch ein Sonderfall. So erkennt beispielsweise Namibia neben dem Englischen als „official language“ noch 13 weitere Sprachen als „national languages“ an, unter ihnen Bantu- und Khoisan-Sprachen, aber auch das Deutsche. Die deutschsprachige Minderheit in Namibia geht auf die Zeit der deutschen Kolonialherrschaft 1884 bis 1915 zurück, als Namibia als Siedlungskolonie des Deutschen Reiches konzipiert war (in diese Zeit fallen auch koloniale Verbrechen, einschließlich des Völkermordes an den Herero und Nama). Anders als bei deutschen Minderheiten in den USA ist die Sprechergemeinschaft in Namibia vital: Das Deutsche wird nicht nur in der Familie, sondern auch in Schulen, Kirchen und Medien gepflegt und anders als in den USA nicht durch Englisch als Staatssprache verdrängt. Mehrsprachigkeit kann hier zu gesellschaftlicher Vielfalt beitragen, und Minderheitensprachen sind, anders als unter einem monolingualen gesellschaftlichen Habitus wie in den USA und Deutschland, nicht durch eine überwältigend dominante Majoritätssprache bedroht.

Die Mehrsprachigkeit, die wir heute in Deutschland beobachten, und die zunehmende Sprachvielfalt auch im öffentlichen Raum bringen also ein Stück sprachlicher Normalität in unsere Gesellschaft zurück. —

Prof. Dr. Heike Wiese ist Inhaberin des Lehrstuhls für Deutsch in multilingualen Kontexten an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem urbane Kontaktdialekte in Europa und Afrika und die Entwicklung des Dialekts Kiezdeutsch, zu dem sie auch ein Onlineportal initiiert hat. Sie forschte 1998 bis 1999 mit einem Postdoc-Stipendium des DAAD als Gast­wissenschaftlerin an der Brandeis University in den USA.