In Aktion

Sprache als Brücke in Vergangenheit und Gegenwart

Mit dem Jacob- und Wilhelm-Grimm-Preis zeichnet der DAAD internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für herausragende Arbeiten auf dem Gebiet der Germanistik aus. Vier Preisträgerinnen und Preisträger geben hier Einblick in ihre aktuelle Forschung.

Ausgabe 1 | 2023

Interviews: Miriam Hoffmeyer

© Julian Rentzsch

Auf afrikanischen Spuren in Deutschland

Dr. Kokou Azamede, Université de Lomé, Togo/Grimm-Preis 2022, DAAD-Alumnus

Herr Dr. Azamede, Ihr Interesse gilt der ­gemeinsamen Geschichte Deutschlands und ­Togos aus kulturwissenschaftlicher Sicht. ­Woran forschen Sie derzeit?

Azamede: Schon bevor Togo zur deutschen Kolonie wurde, waren deutsche Missionsgesellschaften dort aktiv. Von 1884 an kamen dann regelmäßig togoische Christen der Norddeutschen Missionsgesellschaft nach Württemberg, um dort eine Missionsausbildung zu erhalten. Sie haben auch größere Reisen durch Deutschland unternommen. Briefe und Erinnerungen dieser Männer habe ich in meiner Dissertation ausgewertet. Jetzt möchte ich das mit dem Grimm-Preis verbundene Forschungsstipendium für eine Spurensuche in Deutschland nutzen: Welche schriftlichen Zeugnisse schlummern in Archiven, welche Erinnerungen an die togoischen Christen wurden vielleicht in Familien überliefert? Wir gehen in Togo oft auf deutschen Spuren – es ist Zeit, auch in Deutschland einmal zu einer afrikanischen Spurensuche aufzubrechen.

Sie sind Experte für die Rückgabe von Kulturgütern aus der Kolonialzeit. Mit welchen Fragen beschäftigen Sie sich in diesem Zusammenhang?

Azamede: Bei vielen Objekten muss zunächst die Herkunft geklärt werden. Die Communitys in Togo wissen oft noch gar nicht, welche Kulturgüter in deutschen Museen stehen. Bei der Restitution geht es aber nicht nur um wissenschaftliche, sondern vor allem um soziale Fragen: Welche Bedeutung haben diese Objekte heute für die Communitys? Inwiefern können sie ihre Identität stärken und ihre Kultur bereichern? Diese Fragen für einzelne Objekte zu beantworten, ist eine große Herausforderung. Generell lässt sich die Restitutionsproblematik nur lösen, wenn sich die deutsche und die afrikanische Seite gemeinsam mit der kolonialen Vergangenheit auseinandersetzen. In dieser Hinsicht ist in den vergangenen Jahren einiges in Bewegung gekommen. —

Geschichte des Sprachen­lernens in Großbritannien

Prof. Dr. Nicola McLelland, University of Nottingham, Großbritannien/Grimm-Preis 2020, DAAD-Alumna

Frau Professorin McLelland, Sie engagieren sich für das Fremdsprachenlernen in Großbritannien. Wie schaffen Sie es, Begeisterung für Deutsch zu wecken?

McLelland: Mir ist wichtig zu vermitteln, wie faszinierend Fremdsprachen an sich sind – ganz unabhängig von ihrem praktischen Nutzen. Dieser Aha-Moment, wenn man zum ersten Mal etwas versteht, ist eine unvergleichliche Erfahrung. Wer eine Fremdsprache spricht, lernt sich selbst ganz anders kennen. Ich bin Präsidentin der Association for German Studies in Great Britain and Ireland und eine unserer Aufgaben ist es, in Schulen für Deutsch zu werben. Wir motivieren die Schülerinnen und ­Schüler, über den Tellerrand zu schauen und eine neue Welt zu entdecken.

Was gibt es auf Ihrem Forschungsgebiet, der Geschichte des Fremdsprachenlernens in Großbritannien, noch zu entdecken?

McLelland: Derzeit forsche ich zur Geschichte der englisch-deutschen Wörterbücher. Das ist spannender, als es klingt, denn die ganze Geschichte des Austausches ist darin enthalten. Das gegenseitige Interesse erwachte in beiden Ländern relativ spät, die ersten englisch-deutschen Wörterbücher erschienen erst Anfang des 18. Jahrhunderts. Nach und nach wurde der Austausch immer intensiver. Übrigens lassen sich aus Wörterbüchern auch Aufschlüsse über die Gesellschaft gewinnen, etwa in Genderfragen.

Sind Wörterbücher nicht geschlechtsneutral?

McLelland: Das ist die Frage. Im späten 19. Jahrhundert erschien in Großbritannien das erste von einer Frau verfasste deutsch-englische Wörterbuch und sie könnte ihre Beispiele anders ausgewählt haben als männliche Autoren. Generell sagt es viel über eine Gesellschaft aus, wer welchen Zugang zu Fremdsprachen hat. In Großbritannien haben Jungen bis in die Nachkriegszeit Latein und Griechisch gelernt, moderne Fremdsprachen hatten einen niedrigeren Stellenwert und waren eher etwas für Mädchen. Erst in den letzten Jahrzehnten haben lebende Sprachen an Ansehen gewonnen. Aber bis ­heute nehmen vor allem Mädchen am Fremdsprachenunterricht teil. —

Methodisches Know-how für indische Sprachen

Prof. Dr. Vibha Surana, University of Mumbai, Indien/Grimm-Preis 2018, DAAD-Alumna

Frau Professorin Surana, Sie haben einmal gesagt, dass die Germanistik „Brücken zur Wirklichkeit“ bauen soll. Wie meinen Sie das?

Surana: In der traditionellen Philologie hat Objektivität einen sehr hohen Stellenwert – es ist eher verpönt, einen persönlichen Bezug zu den Texten herzustellen. Angesichts der großen Probleme unserer Zeit, von Umweltverschmutzung bis zu Gewalt und Fremdenfeindlichkeit, sollten wir umdenken. Ich lade die Studierenden ein, die deutschen Texte, die sie lesen, in Verbindung zu ihrem Leben und zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen zu setzen. Meiner Überzeugung nach sind Lehrende nicht nur für Abschlüsse verantwortlich, sondern auch dafür, die nächste Generation für gesellschaftliche ­Herausforderungen zu sensibilisieren.

Was bedeutet dieser Ansatz für Ihre Forschung?

Surana: Mich interessiert die Praxis: Beim Vergleich literarischer Texte untersuche ich die kulturelle Tiefenstruktur, den historischen und gesellschaftlichen Kontext sowohl des Textes als auch der Leserinnen und Leser. Es kommt darauf an, lokal und sozial relevante Forschungsthemen auszuwählen. Wissenschaft sollte ihren Sitz im Leben haben.

Welchen Nutzen kann die Germanistik auch für andere Sprachen haben?

Surana: Ein großes und erfolgreiches Projekt, das wir jetzt abgeschlossen haben, ist die Modernisierung der Methodik für Marathi als Zweitsprache und die Standardisierung der sechs Sprachniveaus. Obwohl diese indoeuropäische Sprache von mehr als 80 Millionen Menschen vor allem in Indien gesprochen wird, wurde sie bislang mit veralteten Mitteln und Methoden gelehrt. Wir haben unser methodisches Know-how aus Deutsch als Fremdsprache (DaF) ins Spiel gebracht und mithilfe von Marathi-Experten für jedes Niveau modernes Lehrmaterial entwickelt. Indien ist ein polyglottes Land, aber die methodisch-didaktische Entwicklung der indischen Sprachen als Zweit- und Fremdsprachen ist überfällig. —

Literarische Beziehungen zwischen Deutschland und Brasilien

Prof. Dr. Paulo Astor Soethe, Universidade Federal do Paraná (UFPR) in Curitiba, Brasilien/ Grimm-Preis 2015, DAAD-Alumnus

Herr Professor Astor Soethe, welche Bedeutung hat die deutsche Sprache für die Kultur­geschichte Brasiliens?

Soethe: Deutsch war lange eine brasilianische Sprache, denn seit Anfang des 19. Jahrhunderts sind Hunderttausende Deutsche ins Land ein­gewandert. Sechs Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer haben Deutsche unter ihren Vorfahren. Literarische Beziehungen zwischen beiden Ländern sind mein Forschungsschwerpunkt.

An welchem Projekt arbeiten Sie zurzeit?

Soethe: Bis 1937, als die deutsche Sprache im Zuge einer strikten Nationalisierungspolitik verboten wurde, gab es mehrere Hundert ­brasilianische Zeitungen und Zeitschriften, die auf Deutsch erschienen. Viele von ihnen be­teiligten sich intensiv an den politischen Debatten ihrer Zeit, etwa über die Abschaffung der Sklaverei. Die Texte sind von großem Interesse für die Forschung, aber auch für die Öffent­lichkeit. Die UFPR arbeitet zusammen mit zwei weiteren brasilianischen Bundesuniversitäten – der Universidade Federal do Rio Grande do Sul in Porto Alegre und der Universidade Federal Fluminense in Niterói – sowie unter anderem den Universitäten Tübingen und Bielefeld daran, diese historischen Dokumente zu erschließen und digital zu präsentieren. 2024 sollen viele Dokumente online gestellt werden.

Stimmt es, dass das Interesse an Deutsch in Brasilien wieder gewachsen ist?

Soethe: Auf jeden Fall. Das liegt unter ­anderem daran, dass viele Brasilianerinnen und Brasilianer ihren Beruf gern in Deutschland ausüben möchten, beispielsweise als Pflegekräfte. Rund 200 Jahre nach Beginn der deutschen Immigration nach Brasilien zeichnet sich eine nicht unbedeutende Auswanderungswelle von Brasilianerinnen und Brasilianern nach Deutschland ab. Die Welt ist in Bewegung – auch im Medium der globalen ­Sprache Deutsch. —