In Aktion

Mission: Erinnern

Die vielfach ausgezeichnete koreanisch-amerikanische Dichterin und Übersetzerin Don Mee Choi spricht über sanktionierte Amnesie und ein bewegendes Beispiel für Erinnerungskultur.

Ausgabe 1 | 2022

Interview: Judith Reker

Frau Choi, Sie haben einmal gesagt: „Ich stelle mir oft die Frage: Setzt meine Kunst das historische Vergessen fort?“

Choi: Ich stelle mir diese Frage, um sicherzustellen, dass ich nicht von meiner Mission abweiche, die darin besteht, zu erinnern. Es ist meine Bestimmung, an das zu erinnern, was unterdrückt und absichtlich vergessen worden ist. Mit der Frage prüfe ich mich, ob ich dem gerecht werde.

War Ihnen diese Bestimmung immer klar?

Choi: Nein, ich war viele Jahre lang orientierungslos. Als ich mit 25 Jahren mein Kunststudium abschloss, tat ich mich etwa zehn Jahre lang wirklich schwer. Ich wusste nicht, was tun, wie leben, wie meinen Lebensunterhalt bestreiten, und auch nicht, welche Art von Kunst ich machen wollte. In dieser Zeit begann ich wieder auf Koreanisch zu lesen und stieß auf zeitgenössische feministische Lyrik von Frauen. Ich habe gemerkt, das sind Stimmen, die ich in den USA auf Englisch präsenter machen möchte. Sie haben die in Korea für Frauen vorgeschriebene Sprache radikal durchbrochen. Die Übersetzung dieser Werke hat mir sehr geholfen, denn ich musste die Geschichte Koreas recherchieren, um ihre Arbeit im Kontext der damaligen Ereignisse zu verstehen.
Und während ich mich in die zeitgenössische Geschichte Koreas vertiefte, begann ich darüber nachzudenken, wie sehr auch mein Leben von ihr geprägt wurde und darüber hinaus von dem, was mein Vater erlebt hatte. Dann begriff ich, wie sehr Kriege und Militär mein Leben geformt haben. Da wurde mir klar, dass ich genau darüber schreiben möchte.

In Ihrem Gedichtband „Hardly War“ haben Sie die Philosophie Ihres Schreibens prägnant zusammengefasst als „geopolitische Poetik. Es geht darum, der Geschichte den Gehorsam zu verweigern“. Sie praktizieren das auch in Ihren Essays und in Diskussionen. So haben Sie gesagt, dass das Massaker von Gwangju 1980 – bei dem viele Demonstrierende für Freiheit und Demokratie vom südkoreanischen Militär getötet und verletzt wurden – ohne die Zustimmung der USA nicht hätte stattfinden können. Wie wird in den USA und in Südkorea an solche gewaltsamen Ereignisse erinnert?

Choi: Nur sehr wenige Menschen wissen, welche Art von US-Intervention in Korea stattgefunden hat. Der quasi offizielle Begriff für den Koreakrieg in den USA lautet „der vergessene Krieg“. Es handelt sich um eine Art sanktionierte Amnesie, es gibt in den USA keine Erinnerungskultur. Das Gleiche würde ich für Südkorea behaupten. Es gibt keinen Ort, an dem man sieht: Hier hat das Massaker stattgefunden. Was den Krieg angeht, so lautet die offizielle Version, dass wir von den Amerikanern gerettet wurden, aber uns wurde nie erzählt, dass wir von den Amerikanern geteilt wurden.

„Als ich in Deutschland war, empfand ich, dass die Erinnerung an Ostdeutschland nicht von Ostdeutschen konstruiert wurde.“

Sie haben einige Zeit in Deutschland verbracht, als Gast des DAAD-Künstler­programms in Berlin und als Picador-Gastprofessorin für Literatur in Leipzig. Welche Erfahrungen haben Sie mit der deutschen Erinnerungskultur gemacht?

Choi: Wenn wir allgemein über Erinnerung sprechen, fällt mir Berlin ein. Die Perspektive auf Ostdeutschland wird sehr stark vom westdeutschen Standpunkt eingenommen. Es gibt das Spionagemuseum, das Stasimuseum und so weiter. Ich finde es gut, dass wir all das zu sehen bekommen, aber ich finde auch, dass man allzu leicht in diese antikommunistische Ideologie verfällt, die weltweit existierte. Das finde ich problematisch. Als ich in Deutschland war, empfand ich, dass die Erinnerung an Ostdeutschland nicht von Ostdeutschen konstruiert wurde.
Ich bin in deutschen Städten jedes Mal bewegt, wenn ich die Stolpersteine sehe, diese kleinen Messingquadrate, die an den Holocaust erinnern. Es hat lange gedauert, bis ich sie wahrgenommen habe. Aber als ich erst einmal gelernt hatte, sie zu sehen, waren sie überall. Beim ersten Mal habe ich mich an eine Zeile aus einem Gedicht der koreanischen Lyrikerin Kim Hyesoon erinnert, das ich übersetzt habe: „Sie sind wie die Sterne, die man bei Tageslicht nicht sieht.“ Für mich waren die Stolpersteine wie Sterne, die man bei Tageslicht nicht sehen kann. Und wie die Sterne sind sie das Licht der Vergangenheit. Das Licht, das uns ­erreicht und das Zeit braucht, um uns zu erreichen. —