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Spuren der Vergangenheit

2022 feiert die DAAD-Außenstelle Rio de Janeiro ihr 50-jähriges Bestehen. Ihr Leiter Dr. Jochen Hellmann erinnert an ein noch viel weiter zurück­liegendes Datum: Den Beginn der deutschen Einwanderung in Brasilien vor rund 200 Jahren.

Ausgabe 1 | 2022

Jeder zehnte Brasilianer beziehungsweise jede zehnte Brasilianerin hat deutsche Vorfahren, heißt es. So genau weiß das niemand, und die Grenze, die das individuelle Erinnern von der nach und nach verschütteten Vergangenheit trennt, ist undeutlich markiert. Bei vielen ist es nur ein Nachname, der an die Migration ferner Vorfahren und Vorfahrinnen erinnert, und nicht selten traf der Autor ­dieser Zeilen Personen an brasilianischen Hochschulen, deren Entscheidung für das Deutschlernen damit zusammenhing, dass sie Schmidt oder Lehmann hießen und auf den Spuren dieses Herkommens zurückwandern und die geheimnisvolle Sprache erlernen wollten, die sie in ihrer Kindheit bei der Großmutter gelegentlich noch gehört hatten.

1822 wurde Brasilien von Portugal unabhängig. Das Land war dünn besiedelt und auf die Ausfuhr tropischer Agrarprodukte angewiesen, die durch die Arbeitskraft von aus Afrika unter grausamen Bedingungen nach Brasilien verschifften Sklavinnen und Sklaven hergestellt wurden. Der Kaiser von Brasilien und seine Gemahlin wollten dies ändern. Freie europäische Bauern und Bäuerinnen für brachliegendes Land (und Soldaten für das unterbesetzte Heer …) könnte man brauchen, so die Überlegung. Agenten wurden in das zersplitterte deutsche Reich geschickt, Migrationswillige zu sammeln. 1824 war es dann soweit: Die „Anna Louise“ traf aus Hamburg ein, mit den ­ersten 39 deutschen Einwandernden an Bord.

Zwar kommt die deutsche Einwanderung zahlenmäßig erst an vierter Stelle nach den drei europäischen Hauptherkunftsländern Italien, Portugal und Spanien. Doch scheint die durchschnittliche Kinderzahl bei den deutschen Migrierten am größten gewesen zu sein: Über acht Kinder pro Frau in der ersten und sogar mehr als zehn Kinder bei deutschen Einwanderinnen der zweiten Generation, das genügte, um in ländlichen Gebieten (und die meisten eingewanderten Familien waren in der Landwirtschaft tätig) lange unter sich zu bleiben.

Im öffentlichen Leben sind die Nachfahrinnen und Nachfahren heute als perfekt assimilierte Brasilianerinnen und Brasilianer präsent, Ana Hickmann (TV-Moderatorin), Vera Fischer (Schauspielerin), Gustavo Kuerten (Tennis-Crack), Gisele Bündchen (Model), Rosa Weber (Verfassungsrichterin) und wie sie alle heißen. Ob diese bekannten (und die vielen unbekannten) Menschen mit deutschen Vorfahren und Vorfahrinnen noch Deutsch können? Vielleicht der eine oder die andere noch. Aber sie sind brasilianische Menschen mit einer verblassenden Erinnerung an die Zeit, als ihre Ahninnen und Ahnen auf strapaziöser Fahrt von Hamburg in die unbekannte subtropische Sphäre reisten und begannen, eine ihnen zunächst ­unvertraute Scholle zu beackern. —

Dr. Jochen Hellmann ist Leiter der DAAD-Außenstelle in Rio de Janeiro.