Im Austausch

„Transformatives Erlebnis“

Deutschland mit seinen vielfältigen Facetten erleben – dazu lädt Germany Close Up – North American Jews Meet Modern Germany ein. Das transatlantische Programm richtet sich an jüdische Studierende und junge Berufstätige aus Nordamerika.

Ausgabe 1 | 2022

Text: Christina Pfänder

Wie leben Jüdinnen und Juden heute in Deutschland? Wie geht die Bundesrepublik mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte, dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust, um? Einen Einblick in die deutsche Erinnerungskultur, aber auch zu aktuellen Fragen von Kultur und Politik gibt das Programm Germany Close Up – North American Jews Meet Modern Germany, das der DAAD seit März 2021 betreut. In Kooperation mit jüdischen Partnerorganisationen in Nordamerika lädt das Programm zu einer rund zehntägigen Exkursion nach Berlin und in andere deutsche Städte ein. Teilnehmen können jüdische Studierende und Berufstätige im Alter von 18 bis 39 Jahren mit US-amerikanischer oder kanadischer Staatsbürgerschaft.

„Das Besondere an Germany Close Up ist, dass die meisten Gruppen mit einer gewissen Zurückhaltung nach Deutschland kommen“, sagt Programmleiterin Kathleen Gransow. „Innerhalb der jüdischen Bevölkerung der USA und Kanadas existieren immer noch große Vorbehalte gegenüber Deutschland, die stark von den Kriegserlebnissen und dem Holocaust geprägt sind.“ Mittlerweile sei aber auch ein Wandel spürbar, und die Stimmen würden diverser. „Einige tragen die Skepsis noch mit sich und möchten im Grunde keine Beziehung zur Bundesrepublik haben, andere allerdings sehen Deutschland mittlerweile als Vorreiter im Kampf gegen Antisemitismus in der Europä­ischen Union.“

Mit dem Besuch eines ehemaligen Konzentra­tionslagers, des Denkmals für die ermordeten Juden Europas und des Jüdischen Museums in Berlin taucht die Exkursion tief in den Holocaust und die Zeit des Nationalsozialismus ein. Andere Aktivitäten zeigen das wiedervereinte und moderne Deutschland – und ermöglichen einen lebendigen Dialog mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft, Politik und der jüdischen Gemeinde. „Wir geben dabei kein spezielles Bild von Deutschland vor, sondern regen dazu an, mithilfe der Begegnungen und Erlebnisse zu einer persönlichen Ansicht zu kommen“, sagt Gransow.

„Die vielen Gespräche, vor allem mit den Tourguides, haben mich sehr gefreut. Es war interessant zu sehen, wie die Menschen leben und alltägliche Dinge erledigen.“

Igor Rozenblyum

Nach einer coronabedingten Unterbrechung besuchte im Oktober 2021 erstmals wieder eine Gruppe jüdischer Gäste Deutschland mit Germany Close Up. In Zusammenarbeit mit dem Council of Jewish Émigré Community ­Organizations (COJECO) reisten 18 US-Amerikanerinnen und -Amerikaner, deren Wurzeln in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion liegen, nach Berlin und Frankfurt am Main. „Viele von ihnen sind während der 1990er-Jahre als Kinder oder Jugendliche in die USA ausgewandert oder kurz nach der Ankunft ihrer Eltern dort geboren worden“, erläutert Gransow. „Zu ihren Vorfahren zählen nicht nur Holocaust-Überlebende, sondern oft auch Soldaten der Roten Armee.“ Mit dabei war Igor Rozenblyum, der in der Ukraine zur Welt kam und seit 22 Jahren in Brooklyn, New York lebt. „Ich war neugierig auf das moderne Deutschland und wollte dessen Haltung gegenüber Jüdinnen und Juden aus den ehemaligen Sowjet-Ländern und Israel kennenlernen“, sagt er. „Die vielen Gespräche, vor allem mit den Tourguides, haben mich sehr gefreut. Es war interessant zu sehen, wie die Menschen leben und alltägliche Dinge erledigen.“

Am vielseitigen Programm der Exkursion beeindruckte Rozenblyum insbesondere die Auseinandersetzung mit den Themen Krieg und Verfolgung. „Der Besuch im Konzentrationslager Sachsenhausen hat mich mental gefordert, obwohl ich nicht das gespürt habe, was ich erwartet hatte zu fühlen“, sagt er. Eine tiefe Verbindung habe er allerdings am Mahnmal Gleis 17 in Berlin empfunden: Der zentrale Gedenkort am Bahnhof Grunewald erinnert an die Deportationen jüdischer Bürgerinnen und Bürger mit der Reichsbahn.

Intensive Gespräche, Raum für Kritik sowie Offenheit für gegensätzliche Ansichten und Fragen: „Zahlreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer bezeichnen die Exkursion am Ende als transformatives Erlebnis“, erzählt Gransow. „Einige möchten ihre Familie überzeugen, auch nach Deutschland zu reisen, andere entschließen sich beispielsweise für ein Studium an einer deutschen Hochschule – das ist für uns ein großes Lob.“ Auch Rozenblyum möchte nach Deutschland zurückkehren und weitere Städte besuchen. „Mich hat das Land begeistert, insbesondere die zahlreichen Programme zur Aufklärung der Menschen über den Zweiten Weltkrieg“, sagt er. „Ich bin der Ansicht, dass die Bundesrepublik sehr viel un­ternimmt, damit sich die Geschichte niemals wiederholt.“ –

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