Im Dialog

„Man kann auch aus ethischen Gründen nicht neutral bleiben“

Nickey Diamond aus Myanmar promoviert in Konstanz und ist der erste Stipendiat des Hilde Domin-Programms, das seit 2021 gefährdete Studierende und Promovierende unterstützt. Zusammen mit seiner Professorin Judith Beyer spricht er über politisches Engagement und Wissenschaft, den Wert des Programms sowie die Situation in Myanmar.

Ausgabe 2 | 2023

Herr Diamond, Sie sind Menschenrechtsaktivist und mussten aus diesem Grund 2021 aus Myanmar fliehen. Was hatte den Anstoß zu Ihrem politischen Engagement gegeben?

Nickey Diamond: Seit der Unabhängigkeit Myanmars werden ethnische und religiöse Minderheiten in dem buddhistisch geprägten Land diskriminiert. Die Folgen habe ich schon als Jugendlicher zu spüren bekommen: Obwohl meine muslimische Familie seit Generationen in Myanmar lebt, wurden wir nicht als Staatsbürger anerkannt. Wir durften nicht wählen, kein Konto eröffnen und unsere Heimatregion Mandalay nicht verlassen. Nach meinem Schulabschluss habe ich jahrelang darum gekämpft, einen Pass zu bekommen. Über diesen Kampf habe ich in Sozialen Medien berichtet – das war der Anfang meines politischen Engagements. 2007 habe ich die Organisation „Youth for Social Change“ gegründet, die benachteiligte Jugendliche in Myanmar unterstützt. Zwischen 2016 und 2021 habe ich für die Menschenrechtsorganisation „Fortify Rights“ zahlreiche Gewalttaten dokumentiert, die Militär und Polizei an Musliminnen und Muslimen verübt haben.

Welche Rolle spielt die Verbreitung von Hassreden im Hinblick auf den Völkermord an den muslimischen Rohingya im Bundesstaat Rakhine und andere Gräueltaten in Myanmar?

Nickey Diamond: In meiner Forschung gehe ich, aufbauend auf moderner politik- und rechtsanthropologischer Forschung, genau dieser Frage nach: Wie und in welchem politischen Kontext motivieren Hassreden Menschen zu Gewalt? Dazu werte ich eine Vielzahl burmesischer Originalquellen aus, die ich über die Jahre in Myanmar gesammelt habe. Neben antimuslimischen Pamphleten und Videos sind das auch Mitschriften von „dhamma talks“, öffentlichen Vorträgen, die Mönche über die buddhistische Lehre halten. In Myanmar wird über diese Vorträge auch Hass gegen Muslime und andere Minderheiten legitimiert. Meiner Überzeugung nach sind Hassreden Frühwarnungen. In einer Demokratie ist es die Aufgabe der Regierung, dem Hass aktiv etwas entgegenzusetzen. Das ist in der Reformära von 2011 bis zur Entmachtung von Regierungschefin Aung San Suu Kyi im Fe­bruar 2021 leider nicht geschehen, im Gegenteil: Die Abschaffung der Zensur hat Hass und Hetze sogar noch befördert. Heute ist Myanmar in Chaos und Gewalt versunken.

„Meiner Überzeugung nach sind Hassreden Frühwarnungen. In einer Demokratie ist es die Aufgabe der Regierung, dem Hass aktiv etwas entgegenzusetzen.“

Nickey Diamond

Frau Professorin Beyer, Sie forschen seit vielen Jahren in und zu Myanmar und betreuen mehrere Promovierende, die sich mit Aktivismus beschäftigen. Wie gehen Wissenschaft und politisches Engagement zusammen?

Judith Beyer: In Myanmar kam es am 1. Februar 2021 zu einem versuchten Militärputsch. Seitdem können wir alle das Land nicht mehr für ethnologische Feldforschungen besuchen. Viele unserer Informantinnen und Informanten, bei denen wir in Myanmar gelebt haben, sind im aktiven Widerstand gegen das Militär. Das hat auch unsere wissenschaftliche Position verändert: Wir versuchen aus dem Ausland so gut es geht zu unterstützen. Wissenschaft und politisches Engagement werden oft als gegensätzlich wahrgenommen – aber wenn es die Situation erfordert, kann man auch aus ethischen Gründen nicht neutral bleiben. Natürlich müssen wir dabei immer wieder unsere eigene Position infrage stellen. Wir kommunizieren unsere Forschungsergebnisse nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Öffentlichkeit. Damit gestalten wir die Debatten um Bewegungen, die sich für Frieden und Demokratie einsetzen, aktiv mit.

Nickey Diamond: Die Arbeitsgruppe von Judith Beyer an der Universität Konstanz ist genau der richtige Ort für mich, da ich hier promovieren und gleichzeitig weiter aktivistisch tätig sein kann. Ich bin sehr froh, dass mir das Hilde Domin-Programm ermöglicht, in Deutschland zu forschen und mit meiner Frau und meinen beiden Kindern in Sicherheit zu leben. Meine Lage wurde nach dem Putschversuch im Februar 2021 immer gefährlicher. Mehrmals musste ich für einige Tage untertauchen. Schließlich erhielt ich eine sehr deutliche Warnung, dass ich verhaftet und getötet werden sollte. Am selben Tag haben wir unsere Wohnung in Yangon verlassen. Wir haben uns über viele Wochen in einem Dschungelgebiet versteckt, mit einem Kleinkind und einem Baby. Das war eine unglaublich schwierige Zeit.

„Natürlich müssen wir dabei immer wieder unsere eigene Position infrage stellen.

Prof. Dr. Judith Beyer

Wie haben Sie in dieser Situation von dem Hilde Domin-Programm erfahren?

Nickey Diamond: Judith und ich kennen uns seit 2018, ich habe ihr geschrieben und meine Lage geschildert. Um die Bewerbungsunterlagen hochzuladen, musste ich mehrmals auf einen Berg klettern, damit mein Handy eine Verbindung hatte. Zum Glück bekam ich schnell die Zusage. Und wir haben es geschafft, Myanmar zu verlassen.

Frau Professorin Beyer, Sie leiten auch das begleitende Trainingsprogramm zum Hilde Domin-Programm, aus dem inzwischen rund 50 Studierende und Promovierende in ganz Deutschland gefördert werden.

Judith Beyer: Ja, im Herbst 2023 treffen wir uns zum zweiten Mal mit der ersten Kohorte des Programms zu einem Workshop in Konstanz. Mit dem begleitenden Trainingsprogramm sollen die Geförderten weitere akademische und persönliche Qualifikationen erwerben, die ihnen dabei helfen, nach Abschluss ihres Studiums oder Forschungsvorhabens zur politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in ihren Herkunftsländern beizutragen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Myanmar, die vor dem Terror nach Europa geflohen sind, könnten in Zukunft beim demokratischen Aufbau des Landes eine wichtige Rolle spielen.

Herr Diamond, Sie haben im Januar 2023 gemeinsam mit anderen Menschen aus Myanmar eine Strafanzeige in Deutschland gegen Angehörige der Militärjunta gestellt. Was kann damit erreicht werden?

Nickey Diamond: Das Weltrechtsprinzip ermöglicht die Strafverfolgung schwerer internationaler Verbrechen, unabhängig davon, wo sie begangen wurden. Wenn die Generalbundesanwaltschaft Ermittlungen aufnimmt, würde das den Generälen Auslandsreisen und internationale Geschäfte sehr erschweren. Weil die Armee inzwischen auch die burmesische Bevölkerungsmehrheit terrorisiert, ist der Widerstand im ganzen Land enorm gewachsen. Irgendwann wird die Militärjunta entmachtet werden. Danach werden sehr viel Aufklärung und die Aufarbeitung der Verbrechen notwendig sein, damit ein friedliches Zusammenleben in Myanmar möglich wird. Ich hoffe, dass ich mit meiner Forschung dazu beitragen kann. —

Nickey Diamond (Ye Myint Win) ist erster Stipendiat des Hilde Domin-Programms des DAAD und promoviert damit derzeit an der Universität Konstanz. Der Menschenrechtsaktivist arbeitete in Myanmar bei der Nichtregierungsorganisation „Fortify Rights“ und musste aufgrund dieses Engagements 2021 aus dem Land fliehen. Diamond hat ein Bachelorstudium der Wirtschaftswissenschaften an der Fernuniversität in Mandalay, Myanmar, und ein Masterstudium der Menschenrechte an der Mahidol-Universität in Bangkok, Thailand, abgeschlossen.

Prof. Dr. Judith Beyer lehrt seit 2014 Ethnologie mit dem Schwerpunkt Politische Anthropologie an der Universität Konstanz. Sie ist spezialisiert auf Politik- und Rechtsethnologie und führte Langzeitfeldforschungen in Zentral- und Südostasien durch. Momentan forscht sie in Europa zu Expertenaktivismus und Staatenlosigkeit. Mit einem Semesterstipendium des DAAD studierte sie 2003 an der American University of Central Asia in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek.

Das vom Auswärtigen Amt finanzierte Hilde Domin-Programm des DAAD ermöglicht es politisch verfolgten oder diskriminierten Studierenden und Promovierenden, in Deutschland weiter zu studieren oder ihre Forschung voranzutreiben. Es trägt den Namen der deutschen Lyrikerin Hilde Domin, die vor den Nationalsozialisten flüchtete, später aber nach Deutschland zurückkehrte.

Auch Nyein Chan May ist als politische Aktivistin aus Myanmar geflohen und wurde als Stipen­diatin im Hilde Domin-Programm aufgenommen. Sie studiert an der Julius-Maximilians-Uni­versität Würzburg Politikwissenschaft und Soziologie und beschäftigt sich insbesondere mit Fragen der Friedens- und Konfliktforschung sowie mit Feministischen Außenpolitik, was in Myanmar nicht möglich wäre. Lernen Sie Nyein Chan May im Videoporträt kennen und erfahren Sie mehr über den von ihr gegründeten Verein „German Solidarity with Myanmar Democracy“.