In Aktion

Wissenschaftsdiplomatie in der Praxis

Politik in der Pflicht und Dialog in herausfordernden Konstellationen: Einblicke in die Praxis der Außenwissenschaftspolitik und Science Diplomacy bieten vier dem DAAD verbundene Persönlichkeiten anhand ihrer aktuellen Tätigkeitsbereiche.

Ausgabe 2 | 2023

Texte: Ulrike Scheffer, Illustrationen: Julian Rentzsch

Illustration mit vier Wissenschaftler:innen

„Die Wissenschaft muss der Politik die Richtung vorgeben“

Dr. Arnoldo André Tinoco, 62, ist seit Mai 2022 Außen- und Religionsminister von Costa Rica. Der Jurist promovierte von 1984 bis 1988 mit einem Stipendium des DAAD in Hamburg. Nach seiner Rückkehr nach Costa Rica arbeitete er mehr als 30 Jahre in einer privaten Wirtschaftskanzlei, war ehrenamtlicher Präsident der Handelskammer und langjähriger Honorarkonsul Norwegens in Costa Rica.

Die sogenannte „Blaue Agenda“ steht ganz oben auf der Prioritätenliste von Dr. Arnoldo André Tinoco, Außen- und Religionsminister von Costa Rica und DAAD-Alumnus. Gemeint ist der Meeresschutz. Das zentralamerikanische Land liegt zwischen dem Pazifik und dem karibischen Meer und hat schon deshalb großes Interesse an der Erhaltung der Ökosysteme vor seinen Küsten. Gemeinsam mit Frankreich richtet Costa Rica zudem 2025 die dritte Ozean-Konferenz der Vereinten Nationen (UN) in Nizza aus. Ein Vorbereitungstreffen der Vertragsstaaten wird 2024 in Costa Rica stattfinden. Für den 62 Jahre alten Minister ist das ein Großereignis, vielleicht das wichtigste seiner politischen Karriere. „Es gibt nur einen Ozean, der uns alle verbindet, und es ist eine multilaterale Aufgabe, ihn zu schützen“, sagt er.

Mehr noch als die Politik sieht er Außenwissenschaftspolitik und Wissenschaftsdiplomatie als Wegbereiter für internationale Vereinbarungen in Nizza. „Die Wissenschaft muss der Politik die Richtung vorgeben, denn wissenschaftliche Erkenntnisse sind die Grundlage zur Lösung globaler Probleme“, erklärt der Minister. Die Coronapandemie, so sagt er, sei dafür der beste Beweis. Die Zusammenarbeit von Forschenden weltweit habe entscheidend dazu beigetragen, dass effektive Schutzmaßnahmen und Impfstoffe zum Einsatz kamen. „Ob Covid oder Meeresschutz, die Wissenschaft zeigt uns die Best Practices auf. Wenn wir uns von ihr abwenden, wird es sehr viel schwieriger, internationale Krisen zu bewältigen.“

Arnoldo André begann seine eigene berufliche Karriere ebenfalls in der Wissenschaft. Nach dem Besuch der Humboldt-Schule in San José, der Hauptstadt Costa Ricas, und dem Jura-Studium an der staatlichen Universität seines Heimatlandes erhielt er 1984 ein Promotionsstipendium des DAAD und ging nach Hamburg. 1988 promovierte er dort zu einem völkerrechtlichen Thema. „Ich bin ein Beispiel für den Erfolg der internationalen wissenschaftlichen Nachwuchsförderung“, sagt Arnoldo André mit einem Lachen. Denn auch wenn ihn seine Karriere später weg von der Forschung in eine private Wirtschaftskanzlei führte, so blieb er der Wissenschaft und nicht zuletzt Deutschland doch verbunden.

Mit seiner Ernennung zum Außenminister im Mai 2022 kann Arnoldo André an frühere Verbindungen zu deutschsprachigen Ländern anknüpfen. Sein Deutsch ist fließend. Inhaltlich kommt ihm auch seine frühere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Völkerrecht nun zugute. „Wir haben unsere Armee 1948 abgeschafft und engagieren uns weltweit für Frieden und Abrüstung“, sagt er. Die costa-ricanische Spitzendiplomatin Rebecca Grynspan etwa, aktuell Generalsekretärin der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung, war und ist an den Verhandlungen für das Getreideabkommen zwischen Russland und der Ukraine beteiligt. Der russische Angriffskrieg belegt aus Sicht Arnoldo Andrés, dass auch das Völkerrecht ein Fall für die Außenwissenschaftspolitik ist. „Es muss dringend weiterentwickelt werden, denn derzeit hat es ein Umsetzungsproblem. Die Missachtung bleibt in der Regel folgenlos“, erklärt der Minister. Vor allem das Vetorecht für ständige Mitglieder im Sicherheitsrat der UN müsse überdacht werden. Realistische Chancen für eine Reform sieht er derzeit allerdings nicht. —

„Ein schwieriger Dialog ist besser als keiner“

Dr. Shafiah Fifi Muhibat, 46, ist Deputy Executive Director for Research am Centre for Strategic and International Studies (CSIS) in Jakarta. Seit dem Jahr 2000 arbeitet sie an dem Thinktank ihres Heimat­landes, Forschungsaufenthalte führten sie in dieser Zeit immer wieder auch ins Ausland. Ihre Promotion legte sie als DAAD-Stipendiatin 2013 in Hamburg ab.

Indonesien hat in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen. Die Wirtschaft des Landes entwickelt sich rasant und auch der politische Einfluss des südostasiatischen Inselstaats wächst. Damit steigen auch die Anforderungen an die Arbeit von Dr. Shafiah Fifi Muhibat. Sie ist stellvertretende Direktorin des in Jakarta ansässigen Centre for Strategic and International Studies (CSIS) und verantwortlich für den Forschungsbereich des Thinktanks. Die sicherheitspolitischen Studien des CSIS werden von Regierungsstellen genutzt, von der Wirtschaft rezipiert und auch von Medien aufgegriffen. In ihrer eigenen Forschung beschäftigt sich die Politologin vor allem mit Themen der maritimen Sicherheit im indo-pazifischen Raum und der Sicherheitskooperation in Südostasien.

Der Austausch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Staaten, die dem Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) angehören, ist eine wichtige Grundlage für die Sicherheitskooperation in der Region. „Auf der ASEAN-Ebene existiert schon seit den 1970er-Jahren ein starkes Wissenschaftsnetzwerk. Hier können Sicherheitsfragen jenseits politischer Zwänge sachlich analysiert und erörtert werden“, sagt Shafiah Muhibat. Ob und wie sich dies auf die Regierungspolitik auswirkt, lasse sich schwer messen. „Sicher können wir aber dazu beitragen, den Blick der Politik auf wichtige Themen zu lenken und im besten Fall Anstöße für die Zusammenarbeit in der Region geben.“

Die politische Verantwortung, Krisen zu lösen, liege bei den Regierungen, betont Shafiah Muhibat. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler könnten immer nur eine beratende Funktion übernehmen. Dennoch zeigt gerade ihr Beispiel, wie wichtig Wissenschaftsdiplomatie sein kann. Ob im Rahmen von ASEAN, den Vereinten Nationen oder bilateralen Beziehungen Indonesiens in Asien: Der sogenannte „Elefant im Raum“, wenn es um Sicherheitspolitik in Asien geht, ist China. Ohne China kann es keine Sicherheit geben. „Es ist wichtig, mit China im Dialog zu bleiben, denn ein schwieriger Dialog ist definitiv besser als gar kein Dialog“, sagt Shafiah Muhibat. Offenbar sieht China das ähnlich – und offenbar setzt auch die Regierung in Peking auf wissenschaftlichen Austausch zur Verbesserung ihrer Außenbeziehungen.

Shafiah Muhibat empfängt in Jakarta häufig Delegationen chinesischer Thinktanks. „Das ­Interesse an Kontakten ins Ausland ist von chinesischer Seite her groß“, erklärt sie. Das Selbstverständnis chinesischer Forschungsinstitute unterscheide sich allerdings von dem des CSIS oder vergleichbarer europäischer Institutionen: „Sie vertreten sehr viel stärker Regierungspositionen und sind weniger unabhängig.“ Dennoch könnten die Mitarbeitenden am CSIS von den Gesprächen mit chinesischen Forschenden profitieren. „Wir erfahren, welche Themen sie beschäftigen. Daraus lassen sich viele Schlüsse ziehen.“

Das CSIS ist der älteste unabhängige Thinktank Indonesiens. Shafiah Muhibat hat hier ideale Arbeits- und Forschungsbedingungen. „Entscheidend für gute politische Analysen ist der Zugang zu Daten“, erklärt sie. „Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind wir auf verlässliche Daten angewiesen. Gerade in der heutigen Zeit, in der zunehmend falsche Fakten verbreitet werden, sind sie unersetzlich für die internationale Zusammenarbeit.“ —

„Ich vertrete Polen, nicht die polnische Regierung“

Małgorzata Kopka-Piątek, 49, ist seit 2021 Direktorin des Programms für Europapolitik und Migration am Institut für öffentliche Angelegenheiten, einem angesehenen Thinktank in Polen. Nach dem Studium der deutschen Philologie in Wrocław (Breslau) arbeitete sie zunächst für das Deutsch-Polnische Jugendwerk und anschließend 15 Jahre lang für die Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau.

Ein Krieg im Nachbarland und fast eine Million Geflüchtete haben das Leben in Polen verändert. „Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine bestimmt unsere Sicherheit die politischen und gesellschaftlichen Debatten“, sagt Małgorzata Kopka-Piątek. Die 49-Jährige arbeitet für einen der führenden unabhängigen Thinktanks Polens, dem Institut für öffentliche Angelegenheiten in Warschau. Seit 2021 leitet sie dort das Programm für Europapolitik und Migration – ein klassisches Feld der Außenwissenschaftspolitik.

In der aktuellen Situation ist es für Polen enorm wichtig, Rückhalt in der Europäischen Union (EU) und der Nato zu erhalten. Doch die Regierung unter der rechtsgerichteten PiS-Partei (Prawo i Sprawiedliwość) liegt im Dauerstreit mit der EU-Kommission, weil der von ihr betriebene Umbau des polnischen Justizsystems gegen rechtsstaatliche Standards der EU verstößt. Polen zieht außerdem Kritik auf sich, weil es neben Ungarn zu den Bremsern einer gemeinsamen EU-Migrationspolitik gehört.

Małgorzata Kopka-Piątek dagegen arbeitet intensiv und gut mit Kolleginnen und Kollegen in ganz Europa zusammen. Auch beim Thema Migration. „Durch Kriege und die Folgen des Klimawandels suchen immer mehr Menschen Schutz in Europa. Das können wir nicht ignorieren. Gleichzeitig wird die polnische Wirtschaft ihren Arbeitskräftebedarf mittelfristig nicht ohne Zuwanderer decken können. Wir schauen uns daher Modelle an, wie andere EU-Staaten Integration organisieren. Was funktioniert, was eher nicht?“

Unabhängigkeit ist für Małgorzata Kopka-Piątek nicht nur die Voraussetzung für das wissenschaftliche Arbeiten innerhalb ihres Landes, sondern auch für Kooperationen im internationalen Kontext. „Ich vertrete Polen, nicht die polnische Regierung, und Polens Beziehungen zu den Partnern hängen nicht allein von der Regierungspolitik ab“, erklärt sie. Mit anderen Worten: Außenwissenschaftspolitik darf sich nicht in den Dienst nationaler Außenpolitik stellen – und sie sollte auch nicht mit dieser verwechselt werden.

Die polnische Bevölkerung stehe mehrheitlich hinter dem Projekt Europa, erklärt Małgorzata Kopka-Piątek; die polnische Wirtschaft sei eng mit dem europäischen Binnenmarkt verflochten und der EU gegenüber ebenfalls positiv eingestellt. „Unsere Studien und Datenerhebungen belegen, dass das Bild Europas in Polen besser ist, als es in unseren Medien und von Regierungsseite gezeichnet wird.“ Diesen differenzierten Blick versucht sie auch bei Projekten auf europäischer Ebene zu vermitteln.

Aktuell beteiligt sich ihr Institut an einer EU-weiten Kampagne zur europäischen Grundrechtecharta. Für diese Kampagne haben Kunstschaffende Begriffe wie Gleichheit, Freiheit oder Gerechtigkeit bildlich umgesetzt. Die daraus entstandene Plakatreihe tourt nun durch EU-Staaten und bietet einen Aufhänger für Diskussionsveranstaltungen. „Den Bürgerinnen und Bürgern erscheint die EU manchmal abgehoben, fern von der Lebensrealität der Menschen. Die Kampagne soll deutlich machen, welche Bedeutung sie für unser aller Leben und unseren Wohlstand hat.“ —

„Wissenschaft ist keine Einbahnstraße“

Dr. Chiara Pierobon, 40, ist derzeit DAAD Visiting Professor an der University of Washington. Zu früheren Stationen gehört die Universität Bielefeld, wo sie unter anderem als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für Deutschland- und Europastudien (CGES/ZDES) der Universitäten St. Petersburg und Bielefeld tätig war. In Bischkek, Kirgistan, arbeitete sie als DAAD-Dozentin an der Kirgisischen Nationalen Universität und als Multiplikatorin an der OSZE-Akademie. Parallel dazu war sie Beraterin und Trainerin für internationale Organisationen und Non-Profit-Organisationen sowie das UNESCO-Cluster-Büro für Zentralasien.

Als Dr. Chiara Pierobon zum ersten Mal den Hörsaal ihrer aktuellen Wirkungsstätte an der University of Washington betrat, waren einige ihrer Studierenden überrascht. Deutschland schickt eine Italienerin, um German und European Studies zu unterrichten? Für die 40-Jährige, die seit einem Jahr mit einem DAAD-Stipendium als Gastprofessorin in den USA lehrt und forscht, sind solche Momente ein Beleg dafür, wie wichtig ihre Arbeit ist. „Ich betreibe seit zehn Jahren Wissenschaftsdiplomatie, indem ich das Modell Europa vorstelle“, sagt sie. Welche Rolle kann und will die EU in der Welt einnehmen, welche Werte machen sie aus, was sind die Errungenschaften des europäischen Projekts? Dass eine in Deutschland geborene, aber in Italien aufgewachsene und beheimatete Wissenschaftlerin eine deutsche Gastprofessur erhält, gehört auf jeden Fall dazu. „Obwohl die Nationalstaaten weiter existieren, ist die EU heute ein einheitlicher Rechts- und Wirtschaftsraum, in dem die Regionen über Grenzen hinweg zusammenarbeiten.“

Wissenschaftsdiplomatie sei allerdings keine Einbahnstraße, sagt Pierobon. „Es geht um den Aufbau von Beziehungen zwischen Forschenden, darum, Vertrauen zu etablieren und gemeinsame Projekte und Publikationen auf den Weg zu bringen.“ Die große Frage laute: Was können wir voneinander lernen? Ein hochaktuelles Thema, mit dem sich Chiara Pierobon intensiv beschäftigt, ist feministische Außenpolitik, an der Deutschland seine eigene Außenpolitik stärker ausrichten möchte. In den USA stößt Pierobon damit auf großes Interesse, denn Europa gehört zu den Vorreitern dieses Politikansatzes. Die USA beginnen gerade erst, sich dafür zu öffnen. Noch fehlt allerdings eine international anerkannte Definition und auch ein klares Konzept für die praktische Umsetzung. Für die Weiterentwicklung ist ein wissenschaftlicher Austausch unabdingbar.

In Deutschland werde vor allem über eine stärkere politische Teilhabe von Frauen diskutiert, erklärt Chiara Pierobon, in anderen Ländern suchten auch andere Gruppen und Minderheiten nach mehr Sichtbarkeit und Mitspracherecht. Die großen Schlagworte einer feministischen Außenpolitik seien Inklusion und Diversität. „Wir sprechen über eine komplexe Idee, das Sicherheitsbedürfnis aller Bürgerinnen und Bürger zu berücksichtigen, auf jeden Fall aber mehr Stimmen und Erfahrungen in die Politik einfließen zu lassen.“

Angesichts multipler Krisen in der Welt wäre eine möglichst breite Verständigung über grundlegende Werte von großer Bedeutung – in der Politik ebenso wie in der Wissenschaft. Chiara Pierobon beobachtet jedoch eine zunehmende Skepsis gegenüber westlichem Denken in anderen Weltregionen. Der Dialog mit russischen Kolleginnen und Kollegen ist seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine sogar völlig abgerissen.

In Kirgistan hat Pierobon dagegen positive Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Universitäten, internationalen Stiftungen und zivilen Organisationen gemacht. Mehr als viereinhalb Jahre war sie in verschiedenen Funktionen in Bischkek an der OSZE-Akademie tätig. Im Mittelpunkt stand die Beratung des Landes bei der politischen Umsetzung wichtiger Entwicklungsvorhaben, wie etwa bei der Förderung der Zivilgesellschaft und der Prävention von gewalttätigem Extremismus. „Was sind eure Best Practices und was eignet sich davon für uns?“, sei sie dort gefragt worden. Sie sagt: „Europa hat da einiges zu bieten.“ —