Protokoll: Christina Pfänder
Ökologie der Literatur
Mensch-Umwelt-Verhältnisse neu denken und so zur Lösung der Klimakrise beitragen: Professorin Gabriele Dürbeck und Dr. Simon Probst von der Universität Vechta im Gespräch.
Gabriele Dürbeck: Ich bin Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und als solche halte ich es für essenziell, den Diskurs über Natur, Artensterben und Klimakrise nicht allein den Naturwissenschaften zu überlassen. Seit mehr als zehn Jahren beschäftige ich mich mit Fragen des Ecocriticism, einem literaturwissenschaftlichen Ansatz, der ursprünglich aus dem angloamerikanischen Raum kommt und untersucht, wie Literatur ökologische Fragen verarbeitet und dabei die Rolle des Menschen im ökologischen Gefüge reflektiert, auch in planetarem Maßstab.
Simon Probst: Ja, gerade über die Fragen des Planetaren bin ich zum Ecocriticism gekommen. Vor allem über das Anthropozän, ein zentrales Konzept im Ecocriticism, das eigentlich aus der Geologie stammt und den massiven menschlichen Einfluss auf natürliche Prozesse beschreibt. Besonders interessiert mich daran die interdisziplinäre Offenheit: Literatur tritt in Dialog mit Natur- und Sozialwissenschaften, um kulturelle Prozesse planetar neu zu denken. Die enge Verflechtung von Natur und Kultur wird beispielsweise im feministischen oder postkolonialen Ecocriticism besonders deutlich, der ökologische Zerstörung mit gesellschaftlicher Unterdrückung verknüpft.
Dürbeck: Dieser interdisziplinäre Dialog wird seit etwa 2010 unter dem Dach der Environmental Humanities, der umweltbezogenen Geistes- und Kulturwissenschaften, geführt, an dem sich unter anderem Umweltgeschichte und -philosophie, Kulturgeografie oder Politische Ökologie beteiligen. Sie vereint der Gedanke, dass die Klimakrise nicht allein technologisch lösbar ist, sondern eine tiefgreifende kulturelle, soziale und ethische Auseinandersetzung verlangt: Wenn sich das Bewusstsein ändert, ändert sich langfristig auch das Handeln.
Probst: Entscheidend erscheint mir in den Environmental Humanities, dass die kritische Reflexion kultureller Muster, Werte und Traditionen Teil einer ökologischen Antwort ist. Ein zentraler Verdienst des Ecocriticism liegt darin, ökologische Spuren in unterschiedlichen Epochen, Genres und ästhetischen Traditionen sichtbar zu machen. So prägt die kulturhistorische Epoche der Romantik unsere Naturvorstellungen bis heute, sei es die Faszination von der Vielfalt der Natur, sei es die verhängnisvolle Bergwelt. Ihre ökologischen Dimensionen wurden aber erst in den vergangenen Jahren entdeckt.
Dürbeck: Mir fällt da Joseph von Eichendorff ein, einer der bedeutendsten Naturlyriker. Seine Gedichte sind mehr als romantische Verklärung und lassen sich auch als Reaktion auf die Naturentfremdung seit der beginnenden Industrialisierung lesen. Manche Lieder von Waldeinsamkeit und Wanderschaft wirken bereits wie eine poetische Antwort auf Verlusterfahrungen der Moderne wie Abholzung und Ressourcenausbeutung. Heute können Autorinnen und Autoren angesichts der Dringlichkeit der Klimakrise ökologische Aspekte kaum noch ausblenden, auch wenn sie diese nicht explizit thematisieren.
Probst: Genau das finde ich interessant: Es gibt literaturwissenschaftliche Ansätze, die davon ausgehen, dass sich das Anthropozän selbst dann in Kulturprodukte einschreibt, wenn es nicht bewusst intendiert ist. Der britische Literatur- und Filmwissenschaftler Mark Bould etwa spricht von einem „anthropozänen Unterbewusstsein“, das sich in Katastrophenfilmen, aber auch in scheinbar harmlosen Darstellungen von Luxus, Konsum oder Lebensstilen zeigt.
Dürbeck: Gleichzeitig sind aber auch neue Genres entstanden, die die Klimakrise oft in dystopischen Szenerien explizit behandeln – etwa der Ökothriller, Climate Fiction, Ecocinema oder Nature Writing.
Probst: Und spannend ist, dass Climate Fiction, lange als Nischengenre belächelt, mittlerweile im literarischen Mainstream angekommen ist. Bestes Beispiel: Kristine Bilkaus Roman „Halbinsel“, der in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen hat.
„Wenn sich das Bewusstsein ändert, ändert sich langfristig auch das Handeln.“
Prof. Dr. Gabriele Dürbeck
Dürbeck: Ein anderer Gegenwartstext lieferte den Anstoß für unser aktuelles Forschungsprojekt „Das naturkulturelle Gedächtnis im Anthropozän“, Robert Macfarlanes Buch „Underland. A Deep Time Journey“. Es erkundet unterirdische Orte wie die Karsthöhlen in den Julischen Alpen oder die ostgrönländischen Gletscher, die sich weltweit am schnellsten zurückziehen. Für ihn hat das Eis ein Gedächtnis, es erinnert Einzelheiten wie die Luftverschmutzung bei den Römern oder Vulkanausbrüche, und er schafft ein Bewusstsein für die Folgen der dramatischen Gletscherschmelze.
Probst: Mittlerweile können wir mit unserem Projekt zeigen, dass im kulturellen Gedächtnis ein Bewusstsein für die Verwobenheit von menschlicher und planetarer Geschichte entsteht, ein Bewusstsein, dass Menschen Teil des Planeten sind und sich mit seiner Zerstörung selbst schaden. Es geht uns darum, aus der Erdgeschichte für die Zukunft zu lernen.
Dürbeck: In einem zweiten laufenden Projekt zu Zukunftsdiskursen in Niedersachsen erzählen Bürgerinnen und Bürger ihre persönlichen Klimageschichten, etwa die Beobachtung im eigenen Garten, wie ein Hitzesommer auf den nächsten folgt und jetzt hitzeresistente Pflanzen notwendig sind, oder ein Förster zeigt anhand der Jahresringe einer Baumscheibe, wie diese ihre eigene Geschichte von immer längeren Warmzeiten erzählt. Wir vergleichen solche Geschichten mit den übergreifenden Narrativen naturkultureller Transformation. Hier zeigt sich, dass das Bewusstsein der Bedrohung durch die Klimakrise längst im Alltag angekommen ist, und ganz konkret nach Lösungen gesucht wird. —
Prof. Dr. Gabriele Dürbeck ist Professorin für Literatur- und Kulturwissenschaften an der Universität Vechta und leitet dort das von der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) geförderte Projekt „Das naturkulturelle Gedächtnis im Anthropozän“. Als DAAD-Kurzeitdozentin lehrte sie in Kamerun und Australien.
Dr. Simon Probst promovierte in Germanistik (Neuere deutsche Literatur) an der Universität Vechta. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Das naturkulturelle Gedächtnis im Anthropozän“.